Die Nachricht, die Zentralstelle
Ludwigsburg habe gegen ca. 50 deutsche im Greisenalter befindliche ehemalige
SS-Wachleute des Konzentrationslagers Auschwitz Vorermittlungen wegen Beihilfe
zum Mord eingeleitet, hat in den Medien zunächst einen kollektiven
Freudentaumel ausgelöst.
Ganz langsam stellt sich aber
Ernüchterung ein, plötzlich sieht sich Ludwigsburg selbst massiver Kritik
ausgesetzt, der es sich mit Argumenten kaum erwehren kann:
Warum erst
jetzt, 70 Jahre nach Kriegsende? Warum lebten die deutschen mutmaßlichen
Beihelfer zum Mord über Jahrzehnte unbehelligt unter uns? Hat die Zentralstelle
Ludwigsburg in der Vergangenheit gegenüber deutschen SS-Wachleuten versagt, hat
sie vor deutscher Schuld die Augen verschlossen oder war sie gar blind bei
deutscher Schuld?
Die Antwort von Ludwigsburg ist stets
stereotyp dieselbe, „frei nach Neckermann“:
Erst Demjanjuk macht's möglich!
Dabei handelte es sich um nichts
anderes als eine unhaltbare Ausrede. Der Hinweis auf Demjanjuk und das Verfahren
vor dem LG München ist eine Irreführung der Gesellschaft und der
Öffentlichkeit.
Um den Medien und der
Öffentlichkeit das Verfahren gegen Demjanjuk schmackhaft zu machen, musste eine
Legende gestrickt werden. Die wahren Hintergründe des Falles sind von den
verantwortlichen Stellen nie zugegeben worden.
Nach dieser Legende soll der
ehemalige Richter am Landgericht Landau, Thomas Walther, an seinem
Dienstcomputer in der Zentralstelle gesurft haben und per Zufall auf Demjanjuk
gestoßen sein. Er soll dann die gegen Demjanjuk in Amerika ergangenen
Ausweisungsurteile gelesen haben.
Dann habe ihn das in Deutschland
herrschende Legalitätsprinzip angetrieben und dafür gesorgt, dass Demjanjuk
nach Deutschland abgeschoben wurde, um so das Strafverfahren gegen ihn und
seine Verurteilung zu ermöglichen.
Europa als Komplize Hitlers
In Wirklichkeit ging es Walther
um etwas ganz anderes: Was Walther dachte und plante, wird in Zeit Online, www.zeit.de/2009/28/DOS-Demjanjuk wie folgt
beschrieben:
Walther glaubt,
Demjanjuk könnte noch einmal ein großer Fall sein. Sein Fall. Mit ihm könnte er
eine Praxis durchbrechen, die ihn immer gestört hat: Die deutsche Justiz hatte
es stets vermieden, über Nazikollaborateure aus dem Baltikum, aus Ungarn,
Rumänien oder der Ukraine zu richten – Menschen, die die Deutschen erst zu
Opfern und dann zu Tätern gemacht hatten.
Walther ging es im Falle
Demjanjuk um die Neuschreibung der Geschichte und um die Widerlegung der
These von der Alleinschuld
Deutschlands am Judenmord.
Der deutschen und europäischen Öffentlichkeit
sollte mit der exemplarischen Verurteilung von Demjanjuk bewiesen werden, dass der Holocaust ohne die aktive Mitwirkung
einer Vielzahl europäischer Nationen gar nicht möglich war bzw. nicht hätte
stattfinden können. Walthers Ziel war:
Heraus aus der Alleinschuld Deutschlands,
Transformation der Alleinschuld in eine Gesamtschuld Europas durch Nachweis der
Komplizenschaft zahlreicher europäischer Nationen mit Nazi-Deutschland.
In der Allgemeinen Zeitung
az.online.de wird Walther in einem Interview, publiziert am 15.5.2013, wie
folgt zitiert:
Wir hatten die
Idee, diesen Fall als „door opener“ zu nutzen und uns den prominenten Namen (Demjanjuk)
zu Nutze zu machen.
Es ging gar nicht um die Schuld
oder Unschuld von Demjanjuk, es ging nicht um das Erreichen gesetzlicher Zwecke
des Strafprozesses im Rechtsstaat, Demjanjuk war das Instrument, Demjanjuk war
der Steigbügelhalter, um die Geschichte neu zu schreiben und sie zu
verfälschen. Das wahre Ziel des Demjanjuk Prozesses war:
Deutschland wäscht
sich von der Alleinschuld rein auf Kosten anderer europäischer Nationen.
In Form eines Gerichtsurteils
gegen Demjanjuk sollte die Botschaft an Europa lauten:
Ohne die
Mithilfe einer Vielzahl von freiwilligen Helfern aus zahlreichen europäischen
Nationen war der Holocaust nicht möglich und hätte gar nicht stattgefunden.
Der Holocaust als europäisches Projekt
Der Wunsch Deutschlands nach Absolution
Die wahren Ziele des
Demjanjuk-Prozesses wurden im Spiegel-Artikel über die europäischen Handlanger
des Holocausts offenbar:
Die Deutschen
waren die Mörder, aber auch viele Nichtdeutsche mordeten mit. Der Fall John
Demjanjuk lenkt jetzt den Blick auf einen vernachlässigten Aspekt des
Judenmordes der Nationalsozialisten: Hitlers Häscher hatten willige Helfer für
ihr Jahrtausendverbrechen – in fast allen Ländern Europas. … Auf den Totenfeldern in Osteuropa kamen auf
einen deutschen Polizisten bis zu 10 einheimische Hilfskräfte. Ähnlich war das
Zahlenverhältnis in den Vernichtungslagern. Zwar nicht in Auschwitz, das fast
ausschließlich von Deutschen betrieben wurde, wohl aber in Belzec, Treblinka
oder eben Sobibor, wo mutmaßlich John Demjanjuk wütete. Dort standen einer
Handvoll SS-Leute ungefähr 120 Trawniki zur Seite. Ohne diese hätten es die
Deutschen „niemals geschafft“, in Sobibor 250.000 Juden umzubringen, urteilt
ein Überlebender. Es waren die Trawniki, die das Lager bewachten, die Juden
nach ihrer Ankunft aus den Waggons und von den Lastwagen trieben, sie in die
Gaskammer prügelten. Vor diesem Hintergrund stellt sich eine Frage, die der
Berliner Historiker Götz Aly schon vor Jahren formuliert hat: Handelt es sich
bei der „Endlösung der Judenfrage“ wohlmöglich um ein „europäisches Projekt,
das sich nicht allein aus den speziellen Voraussetzungen der deutschen
Geschichte klären lässt?
Welch fürchterliche, die deutsche
Alleinschuld verharmlosenden und gefährlichen Sätze, die der deutschen
Sehnsucht nach einer Beendigung des Traumas Holocaust und einer Absolution so
sehr entgegenkommen und die Geschichte so schrecklich verfälschen! Eine
Handvoll Nazis gegen Massen von Ukrainern und Trawnikis. Bezogen auf Belzec,
Treblinka und Sobibor, drei Mal eine Handvoll Nazis gegen Hunderte von judenmordenden
Trawniki = Ausländern.
Selbst der einfältigste
Historiker müsste unverzüglich einer solchen Geschichtsverfälschung
widersprechen und einen Sturm der Entrüstung entfachen. Die Thesen suggerieren
eine massenhafte Komplizenschaft der europäischen Völker auf Augenhöhe mit
wenigen Nazis aus Deutschland, die man angeblich an einer Hand abzählen kann.
Es wird verschwiegen, dass Trawniki nichts anderes als Diensthunde der Nazis
waren, die von den Nazis mit brutaler Gewalt dazu gezwungen wurden, die
Drecksarbeit in den Vernichtungslagern für die deutschen Nazischergen zu
erledigen. Parierten sie nicht, wurden sie von den deutschen Nazis erschossen.
Und es wird verschwiegen, wie viele Nazis tatsächlich an der Aktion Reinhardt,
der fast zwei Millionen Juden zum Opfer fielen, beteiligt waren. Dabei ist der
Abschlussbericht des Leiters dieser Aktion allgemein bekannt und zugänglich.
Selektive Justiz
Der Fall Demjanjuk war und ist
selektive Justiz und damit vom Beginn der Ermittlungen bis hin zur nie
rechtskräftig gewordenen, weggefallenen Verurteilung verfassungswidrig. Kein
anderer Trawniki, kein anderer angebliche europäischer Komplize von Hitler
wurde wegen seiner angeblichen Verbrechen im Ausland in Deutschland vor Gericht
gestellt. Weitere Trawnikis waren und sind nicht greifbar. Trawniki sagten in
deutschen Naziprozessen als Zeugen aus, sie blieben unbehelligt, konnten frei
anreisen und frei wieder in ihre Heimatlänger zurückreisen. Ihnen gegenüber wurde
niemals ein Vorwurf erhoben, schon deshalb nicht, weil Deutschland gar nicht
zuständig war. Im Übrigen galt für Trawniki unwiderlegt und unwiderlegbar über
70 Jahre, dass sie unter Bedrohung von Leib und Leben zum Dienst gezwungen
wurden und wegen Befehlsnotstandes entschuldigt waren.
Aber auch deutsche SS-Wachleute
in Konzentrations- und Vernichtungslagern waren überhaupt nicht im Visier von
Ludwigsburg. Für diese Deutschen galt nach wie vor die „stille Amnestie“, von
der Zehntausende deutscher SS-Wachleute und Wehrmachtsangehörige in
Konzentrations- und Vernichtungslagern der SS und der Wehrmacht profitiert haben.
Es war diese stille Amnestie und nicht der Fall Demjanjuk, die auch zugunsten
der nunmehr von Ludwigsburg ausgewählten 50 Greise galt.
Dass die Zentralstelle nunmehr
gegen die letzten 50 oder 100 deutschen SS-Wachleute in Konzentrations- und
Vernichtungslagers Ermittlungen beginnt, ist ausschließlich der Widerlegung des
Vorwurfes einer selektiven verfassungswidrigen Einzelverfolgung von Demjanjuk
geschuldet.
Nachdem das Verfahren gegen
Demjanjuk gescheitert ist und andere Trawniki als Sündenböcke nicht zur
Verfügung stehen, wurde der juristische Besuch in deutschen Altersheimen und
Siechen- und Pflegestationen angetreten, um dort noch die letzten SS-Wachleute
aufzuspüren und aus ihren Betten zu holen. Ein jüdisches Opfer, das Auschwitz
überlebt hat, hat in der Sendung Kontraste vom 16.5.2013 im Interview
ausgesagt:
Was Ludwigsburg jetzt
macht, ist das Allerletzte.
Damit ist alles gesagt. Schon das
Verfahren gegen John Demjanjuk grenzte an eine „Verhöhnung des Holocaust und
seiner Opfer“. Im Strafprozess geht es zentral um den Angeklagten, seine
Bestrafung, seine Resozialisierung, nicht aber um Geschichtsunterricht oder um
Vorlesungen eines Historikers. Die Strafe soll auf dem Fuße folgen. Nichts, gar
nichts von diesen Zielen eines Strafprozesses ist 70 Jahre danach heute erreichbar.
Das größte Verbrechen in der Menschheitsgeschichte trifft auf Angeklagte, die
von schweren Krankheiten gezeichnet, mit Schmerzmitteln vollgepumpt, gerade und
soeben noch die letzten Tage ihres erlöschenden Lebens mit Unterstützung einer
Vielzahl von Pflegern und unter ständiger medizinischer Versorgung zu meistern
versuchen. Das immer wieder gehörte Argument, die juristische Verfolgung
solcher Personen sei deshalb notwendig, weil diese bei ihren Taten keine
Rücksicht auf ihre Opfer genommen hätten, ist eines Rechtsstaates unwürdig. Und
das Argument“ besser spät als nie“ rechtfertigt nicht, Strafprozesses zu
führen, die nicht mehr zu einem rechtskräftigen Schuldspruch führen und die mit
dem Strafrecht verbundenen Strafzwecke gar nicht mehr erreichen können.
Die Opfer des Holocausts sollten
sich aus Gründen ihrer eigenen Menschenwürde und aus Gründen des würdigen Andenkens
an ihre ermordeten Angehörigen zu schade sein, an Prozessen gegen Sterbende
mitzuwirken. Die Schließung der Zentralstelle ist angezeigt.