Historikerin Angelika Benz übt scharfe Kritik an Bayrischer Justiz
Die viel bejubelte nicht rechtkräftige Verurteilung von John Demjanjuk durch das Landgericht
München II stößt offensichtlich auf scharfen Widerspruch unter Historikern. Während
der Bayrische Rundfunk das Urteil als „historisch“ bezeichnete, übt ausgerechnet die
Historikerin Angelika Benz in dem Buch Bewachung und Ausführung – Alltag der Täter in
nationalsozialistischen Lagern – massive Kritik an der Bayrischen Justiz:
Zitat Benz, Seite 164:
… Die Anklageerhebung gegen John Demjanjuk sieht sich vor mehrfache Probleme
gestellt: Die juristische Feststellung einer Schuld verlangt den Nachweis einer
Einzeltat, die einer Täterschaft den Beweis einer inneren Motivation. Beides ist im
Fall Demjanjuks höchst schwierig und beides setzt auch eine Klärung historischer
Situationen voraus. Um Demjanjuk verurteilen zu können, war unter anderem zu
bewerten, ob Trawnikis, die in Vernichtungslagern eingesetzt gewesen waren, eine
Flucht möglich oder zumindest ein Fluchtversuch – angesichts der zu erwartenden
Strafen im Falle des Ergreifens – zumutbar gewesen wäre. Die Anklage stützte sich
hier auf einen fragwürdigen Begründungszusammenhang: Es seien derart viele
Trawniki-Männer geflohen, dass das Unterlassen eines Fluchtversuches ausreiche,
um von einer Freiwilligkeit des Angeklagten auszugehen. Außer Acht gelassen
wurde dabei, was unter Historikern unumstritten ist, nämlich dass die Situation
der „Trawnikis“ so einfach nicht zu beurteilen ist. Der Druck, unter dem die früheren
Rotarmisten standen, die kurz vor ihrer Rekrutierung in das Ausbildungslager noch
zur Vernichtung bestimmt waren, war groß. Einige wurden bei Fluchtversuchen
erschossen, und allen war zweifellos bewusst, dass ihr Leben an ihre Dienste für
die SS gekoppelt war. Ebenso verstellt es den Blick, wenn man die Trawniki als
homogene Gruppe betrachtet. Bereits die Frage, wie sie rekrutiert wurden, offenbart
Unterschiede:
Einige hatten sich freiwillig und in ideologischer Übereinstimmung mit den
deutschen Besatzern zur Verfügung gestellt, andere meldeten sich „freiwillig“, da
ihnen dies als einziger Weg erschien, ihr Leben zu retten. Wieder andere wurden
mit offener Gewalt zwangsrekrutiert. Eine der Situation angemessene juristische
Bewertung hätte also zunächst zu klären, was im Einzelfall zutrifft. Im Prozess gegen
John Demjanjuk jedoch griffen Anklage wie Verteidigung auf ein – jeweils anderes –
pauschales Bild „der Trawnikis“ zurück und legten es ihrer Beweisführung zugrunde,
ohne zuvor zu belegen, welchen Weg der hier vor Gericht Stehende genommen hatte
oder hatte nehmen müssen. Im Hintergrund des Prozesses spielte weiter eine Rolle,
das die bundesdeutsche Nachkriegsjustiz bei der Verfolgung und Bestrafung von NS-
Tätern zahlreiche Versäumnisse begangen hatte und das Gericht heute sich nicht dem
Vorwurf aussetzen wollte, erneut einen NS-Verbrecher ungeschoren oder mit einer
zu milden Strafe davonkommen zu lassen. Erschwerend kam dabei noch hinzu, dass
die Vorgesetzten Demjanjuks niemals zur Rechenschaft gezogen worden sind.
Zitat Benz, Seite 168 / 169:
Wichtige Fragen wurden nie geklärt, stattdessen standen sich unterschiedliche
Auffassungen und mitgebrachte Bilder unvereinbar gegenüber. Die Feststellung der
Täterschaft, für die das deutsche Recht einen Einzeltatnachweis fordert, kann im
Falle der Vernichtungslager nur äußerst selten erbracht werden. Opfer und Zeugen
sind ermordet worden, die Täter schweigen und nicht zuletzt: Taten und Tatverlauf
sind höchst komplex, die Täter gingen arbeitsteilig vor und standen auf
verschiedenen Hierarchiestufen. Welche Verantwortung im Prozess des Tötens John
Demjanjuk übernahm, welche Tathandlungen er konkret ausführte, an welchen
einzelnen Mordtaten er beteiligt war, welche Motive er für sein Handeln hatte,
musste offen bleiben. Denn der Angeklagte schwieg beharrlich. Sich seiner
mutmaßlichen Taten darüber anzunähern, welche Rolle die Trawnikis in den
Vernichtungslagern der Aktion Reinhardt konkret ausgeübt hatten, blieb ähnlich
unzureichend. Denn hier steht auch die Geschichtswissenschaft vor einer
unbeantworteten Frage. Das Münchener Landgericht hat im Falle Demjanjuk
geurteilt, dass Jeder, der Teil der Vernichtungsmaschinerie war, also Jeder, der im
Vernichtungslager Sobibor für die SS Dienst tat, sich zumindest der Beihilfe
schuldig gemacht habe. Damit verzichtete das Gericht auf den Nachweis konkreter
Einzeltaten und begründete dies mit dem ausschließlichen Daseinszweck des Lagers
Sobibor: Die Ermordung von Juden. Und jeder der dort Anwesenden oder
Beteiligten sei auf die eine andere Art mitschuldig. Eine eindeutige Beweislage also
gibt es nicht, dafür aber zwei Meinungen, von denen jeder ein klares Bild zeichnet,
das eine Schwarz, das andere Weiß. Für die Anklage ist John Demjanjuk ein
grausamer Massenmörder, für die Verteidigung ein wehrloses Opfer. Beide haben
nicht Unrecht, doch das Bild hat mehr Schattierungen: So gab es Trawniki-Männer,
die durch brutalen Sadismus auffielen und die zu ihrer Unterhaltung Juden zu Tode
quälten, andere dagegen halfen Juden, versorgten sie beispielsweise mit
Informationen über den Frontverlauf, wiederum andere flohen, in mindestens einem
Fall ist ein Selbstmord bekannt. Bei den meisten jedoch wissen wir nicht, ob Habgier
oder Überzeugung, Angst oder Zwang sie zu Hilfsarbeitern der Nazis machten. Was
bleibt, ist die naheliegende Gewissheit, dass auch dieser Prozess seinem Gegenstand
nicht gerecht werden konnte.
Es war unwahrscheinlich, dass überhaupt Kritik am Vorgehen der Bayrischen Justiz im Falle
Demjanjuk von dritter Seite geäußert und publiziert wird.
Es erstaunt nicht, dass beispielsweise die juristische Literatur zum Fall Demjanjuk und zum Urteil
des Landgerichts München II eisern schweigt. Die Furcht, bei kritischen Anmerkungen schnell in
den Verdacht eines Nazisympathisanten zu geraten, ist offensichtlich groß.
Umso erstaunlicher ist es, dass die Historikerin Benz mit ihren Ausführungen sich in erheblichem
Umfang die Argumentation der Verteidigung zu eigen macht, die in ihrem Schlusswort,
veröffentlich unter „Demjanjuk – Der Sündenbock“ die Unvereinbarkeit der gerichtlichen
Behauptungen mit der historischen Wahrheit und dem Landgericht München nachgewiesen hat,
dass es sich über die historische Wahrheit hinweggesetzt hat und eine eigene Wahrheit im Fall
Demjanjuk neu erfunden und an die Stelle der historischen Wahrheit gesetzt hat.
gez. Dr. Ulrich Busch
Rechtsanwalt
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